Förderbedarfe endlich frühzeitig erkennen - Rede von Sabine Muhl bei der BV Wandsbek am 15.12.22

Bezirksversammlung am 15. Dezember 2022: Schulische Förderbedarfe rechtzeitig erkennen, Autoarmer Ortskern in Volksdorf, Botanische Sondergarten und vieles Mehr

LF WandsbekReden

Bei der Bezirksversammlung Wandsbek am 15. Dezember hat die Linksfraktion Wandsbek einen Debattenantrag zum Thema "Förderbedarfe für Lese-Rechtschreib-Schwäche, Rechenschwäche und Linkshändigkeit endlich frühzeitig erkennen" eingebracht und so am wichtigen Thema Grundbildung weiter gearbeitet. Außerdem war die Evaluation des Projektes Autoarmer Ortskern Volkdsdorf Thema, der Botanische Sondergarten und mal wieder die öffentliche Ausschreibung der Stelle des Bezirksamtsleiters.

Hier könnt ihr Euch einige Reden zu den Themen anschauen und die Rede von Sabine Muhl auch lesen!

 

 

Rede Bezirksversammlung Wandsbek, Debattenantrag Linksfraktion, Sabine Muhl

15.12.2022 - es gilt das gesprochene Wort -


Sehr geehrte Damen und Herren, im Saal und an den Bildschirmen,


um eine 4-Seite-Rede auf 3 Sätze zu verkürzen: Die frühen Jahre sind entscheidend im Bildungssystem und später nur noch teuer und mühsamst
aufzuholen. Wir müssen das Bildungssystem revolutionieren, reformieren reicht nicht mehr und Familien besser unterstützen.
Ein erster Schritt könnten daher neue bezirkliche Anlaufstellen sein und eine bessere Ausstattung bisheriger, im Fokus z.B. Elternschulen, Kitas, Mehrgenerationenhäuser,
Lokale Bildungskonferenzen; wir sollten Netzwerker:innen u.a. aus der Kinder- und Jugendhilfe als Multiplikatoren in einem ersten Schritt erreichen.

An dieser Stelle vielen Dank an die Verwaltung für den last-minute-Tausch unserer Petitumspunkte unter Nr. 8, bitte auf lokale statt regionale Bildungskonferenzen tauschen.

So, der eigentliche Vortrag:
Dr. Barbara Sattler, Leiterin der ersten deutschen Beratungs- und Informationsstelle für Linkshänder und umgeschulte Linkshänder e.V. in München bezeichnet „das Umerziehen der
Händigkeit als einen der massivsten unblutigen Eingriffe in das menschliche Gehirn“.
In der September-Sitzung habe ich beim Thema Grundbildung über die weitreichenden Folgen für die Betroffenen und deren Familien sowie die gesellschaftlichen Belastungen des
Analphabetentums gesprochen.
Heute geht es um erweiterte Grundbildung, dies umfasst den Zeitraum von frühkindlicher Bildung, Primarschule, untere Sekundarstufe und außerschulische Grundbildung.

Momentan jagt eine Schreckensmeldung gerade die andere: Spiegel online vom 9.12.:
“Grundschulen verfehlen Bildungsauftrag”, “Alarmierendes Gutachten der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission“, “Desaströses Grundschul-Gutachten”,
Wissenschaftler haben festgestellt, dass der Staat seinem Bildungsauftrag nicht mehr für alle Kinder gerecht werde und es der Grundschule in vielen Fälle nicht gelinge, grundlegende Kompetenzen an alle Kinder zu vermitteln.
Ein knapp 200-Seiten-Gutachten in einem Wort zusammengefasst: Systemversagen.Die weiterführenden Schulen können die Förderbedarfe nicht allein auffangen. Dabei gibt es
durchaus Potenzial auf bezirklicher Ebene.
Es gibt für Kita-Kinder mit logopädischem Förderbedarf bisher den verpflichtenden Vorschulklassenbesuch oder den verpflichtenden Besuch einer Kita mit entsprechendem Förderplatz.
Andere Auffälligkeiten werden nicht so früh getestet.
Ein Bereich, dem bisher wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde, der aber auch wesentlich für einen erfolgreichen Schulbesuch ist: die sogenannte Händigkeit, die sich während der ersten Lebensjahre festigt und bis zum Schuleintritt entschieden sein sollte. Schätzungen gehen von etwa 10 bis 15 % Linkshänder:innen aus, eine andere Quelle besagt eine theoretische Häufigkeit gar von bis zu 50%.
“Nimm immer das schöne Händchen” hieß es früher. Die Betroffenen leiden oft still und quälen sich, oft viele Jahre unentdeckt. Während der beschwerlichen Schulzeit dann auf die eigentlich dominante linke Hand umzuschulen, ist für viele Kinder eine zu hohe Hürde. Schließlich bedeutet es weitere mühsame Therapiejahre mit täglichen Einheiten. Der umgeschulte Linkshänder lebt also mit einer zerebralen Fehlbelastung, die lebenslang spürbar sein kann.
Schulen benötigen entsprechende Gutachten, wenn es um NTAs, Nachtteilsausgleiche geht. Die teuren und aufwendigen Verfahren sind in keinem bezirklichen Angebot vorhanden, weder für Teilleistungsstörungen noch für Linkshändigkeit.

Was können wir in Wandsbek tun?Vorreiter in Hamburg werden für den Bereich erweiterte Grundbildung, vielleicht sogar hamburgweite Anlaufstelle!
Wir brauchen besser ausgebildete Menschen im Bildungsbereich ab der sog. erweiterten Grundbildung. Bei Weiterbildungen für Lehrer:innen ist das LI zuständig, das Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung. Im Veranstaltungskatalog heißt es dort:
Im Rahmen des Hamburger Sprachförderkonzepts bietet das LI im Schuljahr x erstmals eine Weiterbildung im Fachbereich additiver Sprachförderung an Schule (FASS) an. - Ich frage mal kurz in die Runde, hat jemand eine zeitliche Vorstellung, welches Schuljahr gemeint sein könnte? Wie viele Jahre liegt es zurück? Additive Sprachförderung an Schulen?

Zwischenruf: 15 Jahre.

Nein,null. Das laufende Jahr, wir haben jetzt erst angefangen.
Es ist deprimierend. Ich zitiere aus dem Tagungsbericht vom November 2021:
Bilanz und Ausblick, das Ergebnis ist eindeutig, es stellt sich folgender Entwicklungsbericht dar:
Die strukturierte und verbindliche Qualifizierung aller schulexternen Förderlehrkräfte ist notwendig. Hilfreich wäre auch eine Basisqualifizierung, eine Definition
von Mindeststandards für alle Personen, die Sprachförderung vor Ort erteilen.
Das klingt nicht so weit fortgeschritten, wie es wünschenswert wäre.
Auf Bezirksebene können wir zwar nicht die Lehramtsausbildung neu ausrichten, aber andere Impulse setzen. Es ist uns bewusst, dass einige Petitumspunkte gar nicht in bezirklichen Händen liegen, geschweige denn die Finanzierungsmöglichkeiten, aber unser Debattenantrag soll ein Denkanstoss für einen zukünftigen wirksamen Austausch mit konkret umsetzbaren Lösungen sein, wir möchten ihn gern in den Ausschuss für Soziales überweisen.

Es ist aber ebenfalls immens wichtig, die Eltern zu sensibilisieren und zu informieren. Formale Bildungsstätten allein können die Bildungskatastrophe nicht beenden, dafür müssen sich alle beteiligen und anstrengen.
Finanzschwächere Haushalte haben es schwerer, denn selbst wenn es einen Anfangsverdacht für das angehende Schulkind gibt: Manche Leistungen gibt es nur bei gewerblichen Anbietern, nicht in Beratungsstellen mit bezirklicher Verantwortung. Und wir sprechen hier von Gutachten, die mehrere Hundert Euro kosten.
Nein, die Krankenkassen übernehmen diese Leistung nicht, diese Art Diagnostik steht nicht im Leistungskatalog. Pflegekassen dito, auch bei Menschen mit anerkannten Behinderungen nicht.
LRS/Rechenschwäche sind Teilleistungsstörung als sog. umschriebene Entwicklung schulischer Fertigkeiten im ICD Katalog klassifiziert.
Weder bei der 4,5jährigen Untersuchung noch bei der Schuleingangsuntersuchung wird das aufwendige mehrstündige Testverfahren, inkl. Videobeobachtung, praktiziert (Linkshändigkeit).
Auch die U Untersuchungen beim Kinderarzt sind nicht ausreichend.
Die Diagnostiken für LRS/Rechenschwäche dauern mehrere Stunden über mehrere Testtage verteilt, so dass allein rein zeitlich dies den Rahmen einer Schuleingangsuntersuchung sprengen würde. Familiem fühlen sich vielleicht danach, nach der Schuleingangsuntersuchung “ auf der sicheren Seite”. Es wurde ja alles von bezirklichen Fachleuten vor dem Schuleintritt abgeklärt.
Wirklich?
Die Schulen sind leider ebenfalls nicht gerüstet dafür.
Keine Schulform.
Auch nicht die Privatschulen.
Fachkundige Beratung bei den 13 bezirklichen RebbZ, Regionale Bildungs- und Beratungsstellen?
Fehlanzeige.
Auch die LRS-, Rechenschwäche-Förderung an Schulen ist ausbaufähig, je eine Stunde Deutsch und Mathe am Ende einer langen und anstrengenden Schulwoche, meist in Kleingruppen, was bleibt da noch hängen? Kinder mit einer diagnostizierten Teilleistungsstörung brauchen meist jahrelange Lerntherapie, nicht bloß einfache Nachhilfe und oft auch eine zieldifferente Beschulung.
Wie ist der status quo für betroffene Familien in Wandsbek oder generell in Hamburg?
Man muss irgendwie die Kohle zusammenkratzen. Momentan gibt es keine andere Möglichkeit bei einem Anfangsverdacht, zumindest nicht für die Händigkeit. Bei einem Verdacht von LRS/Rechenschwäche könnte man noch zur Facharztpraxis, natürlich ein paar Monate Wartezeit mitbringen. Ein Schulhalbjahr kann da schon mal draufgehen, je nach Auslastung.
Die verschiedenen Gutachten und Facharztberichte sind dann Grundlage eines sog. NTA, Nachteilsausgleichs, der bis immerhin zur einschließlich 6. Klasse geltend gemacht werden kann.
Was immer danach auffällt: Pech gehabt.
Sorgen wir in Wandsbek für eine eine bessere Informationslage.
Sorgen wir für eine mindestens bezirkliche, gern auch landesweite Anlaufstelle: ein Netzwerk für
eine frühe Förderung in der erweiterten Grundbildung.
Helfen wir Wandsbeks Familien.
Vielen Dank.